Christiane und Deniz Döhler sind Spiel-/Theaterpädagogen und Trainer für Improvisationstheater. Als sie einen autistischen Sohn bekamen, waren sie verzweifelt. Bis sie erkannten, dass ihm das hilft, was sie seit Jahren beruflich machen: spielen.
Familie Döhler berichtet:
Im Rahmen von Workshops und Kursen unterrichten wir seit 1999 das Improvisieren für die Bühne und das Leben. Wir trainieren professionelle Schauspielgruppen, bieten Kurse als Hobby nach Feierabend für ein fröhlich-kreatives Miteinander, arbeiten mit Kindern und Jugendlichen in Berliner Brennpunktschulen oder mit jungen Erwachsenen in Behindertenwerkstätten. Man kann mit uns im Rahmen der Ergotherapie in Psychotherapiepraxen improvisieren ebenso buchen uns Unternehmen für Mitarbeiterworkshops. Der Kontext ist nach unserer Erfahrung egal: immer geht es im Kern darum, spontan, kreativ und flexibel im Team miteinander umzugehen (zu spielen). Eine konstruktive Kommunikationskultur, welche die Basis für ein Mehr an Interaktion darstellt ist ein fester Bestandteil unserer Trainings.
Als wir ein autistisches Kind bekamen, empfanden wir es als schlechten Scherz des Schicksals: zwei Kommunikationsexperten als Eltern eines Kindes, das nicht mit der Außenwelt kommunizieren kann. Luka sah niemanden an, ließ sich nicht anfassen, machte keine Anstalten zu sprechen; weder ließ er sich füttern, noch übernahm er eigenständig die Initiative zum Essen. Mit einem Jahr wog er knapp sieben Kilo und erhält seine erste Diagnose: unterernährt. Wir waren verzweifelt. Luka schrie, kratzte und kneifte jeden, der sich ihm näherte, ins Gesicht. Alles, was er wollte, war, zwei Metallschüsseln kreiseln zu lassen – stundenlang. Als Luka 22 Monate alt ist, fällt endlich der Begriff, der seinem Zustand einen Namen gibt: Frühkindlicher Autismus.
Ein vorgezeichneter Weg
Die Ärzte machten uns wenig Hoffnung für Lukas Entwicklung. Der Weg schien vorgezeichnet: möglichst früh Integrationskindergarten, danach Sonderschule, Behindertenwerkstatt, betreute Wohngemeinschaft. Wir hatten nichts gegen diese Einrichtungen, arbeiteten wir doch selbst dort. Aber wir sahen so viel mehr in unserem Sohn, wollten offen und neugierig bleiben, wie man Luka dabei helfen könnte, sein volles Potential zu entfalten.
Aus Beruf wird Berufung und unser „Für-Luka-Programm“:
Die Kommunikationsregeln, die wir mit unseren Seminarteilnehmern trainierten, stellten sich als sehr geeignet heraus, um unser Kind zu fördern. Im Improtheater steht am Anfang immer das „Au ja!“ – die Akzeptanz der eigenen Ideen und derer des Spielpartners. Erst im zweiten Schritt kommt ein „Ja, und…“ hinzu: Ich führe von der Ursprungsidee ausgehend immer weitere Ideen hinzu – es entsteht ein Geschichts- oder Handlungsstrang. Wie im Improtheater, so auch in einem AuJA-Spielraum.
Auch im Spielraum begegnen wir dem Kind mit einem „Au ja!“. Das Kind schaukelt beispielsweise stundenlang hin und her. Wir tun das dann auch, mit dem Kind gemeinsam, akzeptierend, wertfrei und vom ganzen Herzen, in einem extra fürs Kind eingerichteten „Ja-Raum“ beim Kind zu Hause.
Wir lassen das Kind im ersten Schritt unser Lehrer sein, lernen seine Welt kennen. Zuerst zeigt uns unser Kind den Weg in seine autistische Welt (Au ja!). Erst im zweiten Schritt, nachdem wir vom Kind als Spielpartner akzeptiert wurden und es gerne mit uns spielt, zeigen wir ihm den Weg in unsere Welt (Ja, und…).
Die Brücke zwischen beiden Welten ist Liebe und Akzeptanz, ein Weg vieler kleiner Schritte, den wir mit Positivität, Energie und Einfachheit, drei weiteren Grundprinzipien des Improtheaters, gemeinsam mit dem Kind gehen.
Wir richteten einen Spielraum für unseren Sohn ein. In diesem Raum sollte alles erlaubt sein, und es sollte Luka und jedem der mit ihm spielte, Spaß bereiten, sich darin aufzuhalten: Lukas „AuJA-Raum“.
Hier spielten wir Lukas Spiele. Drehte Luka beispielsweise stundenlang Gegenstände, akzeptierten wir dies und machten mit; wochenlang bauten wir Kirchtürme aus Bauklötzen, um Glocken darin zu verstecken oder schnitten aus Papier Pilze und Sterne, um diese anschließend unter den Scheuerleisten seines Zimmers verschwinden zu lassen. Wir spielten das, was unserem Kind gefiel, frei nach dem Improtheater-Motto „Ich-habe-keine-Ahnung-warum-ich-das-tue-aber-es-ist-OK-au-ja!“. Warum er manche Sachen gerne spielte? Egal! Wir erlernten ebenfalls Meisterschaft in seinen Spielen, einfach, weil wir unser Kind lieben und ihm nahe sein wollten: AuJA – akzeptieren und mitspielen! Dadurch, dass wir als erstes die autistische Welt unseres Kindes betraten, das „Ja-Spiel“ mit ihm spielten (= Impulse annehmen, akzeptieren und „Au Ja!“ spielen), bauten wir eine Vertrauensbasis auf. Im ersten Schritt wurde unser Kind zu unserem Lehrer!
Auf dieser Vertrauensbasis wurden die Spiele nach und nach interaktiver, und je nach Lukas Entwicklungsstand verlagerten wir den Fokus unserer Spiele auf Sprache, Interaktion, Blickkontakt, Körperkontakt oder Erweiterung seiner Flexibilität.
Um die Spieleinheiten besser auswerten zu können, verfolgten wir diese gegenseitig durch einen Observierungsspiegel in der Tür. Anfangs war dies nur eine kleine, von Farbe befreite Fläche einer ehemals übertünchten Glasscheibe, mehr konnten wir uns nicht leisten. Später installierten wir zusätzlich zu einem Observierungsspiegel eine Digicam im Zimmer und nahmen unsere Spieleinheiten mit Luka zur späteren Auswertung auf. Nach einer Spielsequenz gaben wir einander Feedback: Was lief gut? Was könnte man noch verbessern? Welche Erweiterungen erfinden, um Spielroutinen flexibler werden zu lassen. Wie liebevoll aber doch konsequent für Grenzen sorgen, ohne „nein“ sagen zu müssen?
Nach drei Monaten waren wir zwar glücklich mit unseren Entscheidungen, aber auch sehr erschöpft. Für ein Spielraumprogramm, wie wir es uns vorstellten,brauchten wir Unterstützung: Wir warben ehrenamtliche HelferInnen, das „für-Luka-Team“.
14-tägig traf man sich als Gruppe. Wir tauschten uns aus, werteten Ergebnisse gemeinsam aus, formulierten neue Ziele und suchten nach geeigneten Techniken und Spielen, um Luka genau da abzuholen, wo er gerade Hilfe benötigte = das für-Luka-Teamtreffen.
Andere Eltern wurden auf unser Programm aufmerksam, und so boten wir Fortbildungskurse an, in denen wir Improvisations- und Kommunikationstechniken sowie den Ansatz zur Veränderung der inneren Einstellung interessierten Eltern, Helfern und Therapeuten von autistischen Kindern vorstellten. In den Niederlanden gibt es bereits seit 2008, inspiriert von unserem Ansatz, von Eltern organisierte Übungsgruppen „Autismus und Improtheater“.
Unser Sohn ist heute 14 und zu einem spontanen, kooperativen, kommunikativen, teamfähigen Kind geworden, das seine sozialen Fähigkeiten, die er sich in mehr als 10 Jahren Spielraumprogramm aneignen konnte auch in einer stimulierenden Umgebung beibehält. Mittlerweile spielt auch er Improvisationstheater. Luka ist längst kein Einzellfall mehr, denn wir vermitteln unser Spielraum-Programm Eltern von autistischen Kindern weltweit über unsere gemeinnützige Organisation in Form eines wöchentlich stattfindenen Jahrestrainings, das man bequem von zu Hause via Telefon/ skype und Videofeedback absolvieren kann.
Das AuJA-Eltern-Kind-Jahrestraining
Wir begleiten Familien dabei, ein einzigartiges Förderprogramm für Ihr Kind zu kreieren. Individuell, weil aus den Motivationen der Kinder heraus, liebevoll, kleinschrittig und bei sich Zuhause. Die AuJA Spielraum-Methodik zielt auf den Erwerb, bzw. die Entwicklung von sozialen Kompetenzen, die es den Kindern ermöglichen, relevante Beziehungen mit anderen Menschen einzugehen und aufrechtzuerhalten.
Die Ausbildung der Eltern zu Experten für ihre Kinder und Multiplikatoren für das eigene Programm durchläuft im wesentlichen 4 Phasen:
Phase I – Implementierung eines Spielraumes & Beziehungsaufbau
Die Eltern werden im ersten Schritt darin geschult, zu ihrem autistischen Kind mittels interaktiver Spiele und unter Zuhilfenahme von verschiedenen Techniken der AuJA Spielraum-Methodik eine stabile, liebevolle, wertschätzende Beziehung aufzubauen. Es soll das Fundament für ein stabiles und konstantes Spielprogramm bei der Familie Zuhause entstehen, das perspektivisch den wöchentlichen Umfang von mindestens 21 Stunden (Teilzeitprogramm) bis 42 Stunden (Vollzeitprogramm) hat.
Phase II – Spielraum ist etabliert, Förderziele werden definiert
Grundlage für diese Phase ist, daß der Spielraum ein fester Bestandteil der Wochen- und Familienplanung geworden ist. Im zweiten Schritt trainieren wir nun die Eltern darin, wie sie zuvor gesetzte Förderziele (anhand AuJA Spielraum-Entwicklungsbögen) im Spielraum mittels interaktiver Spiele verfolgen. In dieser Phase verschiebt sich unser Schwerpunkt auf sehr viel praktisches Training.
Phase III – Teamaufbau & -leitung
Sobald die Eltern im Programm versiert und im Spielraum stabil sind, übernehmen sie ihrerseits die Einarbeitung und Weiterbildung der (ehrenamtlichen) Helfer. Sie erhalten dabei von uns verstärkt Feedback auf ihre neue Kompetenz als AuJA Spielraum-Kapitän.
Phase IV – Loslassen
Optimalerweise sind die Eltern nun eigenständig in der Lage ihr AuJA Spielraum-Programm kompetent zu lenken. Wir treten mehr und mehr in den Hintergrund.
Mehr Information zu unseren aktuellen Aktivitäten, Workshops, Trainings und Seminaren finden Sie:
rund um das Improvisationstheater unter
zum Thema Autismus unter
– www.facebook.com/autismus.akzeptieren
Christiane und Deniz Döhler sind Teil der Community von Experten der
Global Autism Solutions:
– www.globalautismsolutions.com
Lesetipp:
Christiane und Deniz Döhler AuJa – Autismus akzeptieren und Handeln. Ein Leitfaden von Eltern für Eltern.
Hrsg.: AuJA Spielräume Books on Demand, 2014. 84 Seiten 12,95 Euro
Filmtipp: AuJA – Fünf Tage für neue Hoffnung
Kostenlos ansehen unter
http://www.autismus-auja.de/
oder
https://www.youtube.com/watch?v=StgDP20FauQ&feature=youtu.be